Tankred Stachelhaus

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KRITIK

REPORTAGE

INTERVIEW

PORTRÄT

AUSGESTELLT

DOSSIERS
VANESSA BEECROFT: NACKTE REPRÄSENTANTEN
GÜNTHER UECKER: GEWECKTE ENERGIE

Nackte Repräsentanten

Im Gespräch: Vanessa Beecroft

Ausgezogene ziehen an. Seitdem Vanessa Beecroft vorzugsweise nackte, schlanke junge Frauen mit rasierter Scham zur Schau stellt, kann sich die in New York lebende Italienerin über mangelndes Interesse nicht beklagen. An den mehrstündigen, für die Modelle und Zuschauer gleichermaßen anstrengenden Performances scheiden sich die Geister. Während die einen in den Inszenierungen eine kritische Reaktion zum Schönheitskult oder eine befreiende Girl-Power sehen, machen andere eine demütigende Fleischbeschau oder gar Faschismus aus. Die Kunsthalle Bielefeld zeigt bis zum 22. August eine Retrospektive mit dreißig Fotos, vier Videos und mehreren hundert frühen Zeichnungen. Tankred Stachelhaus sprach für die KUNSTZEITUNG mit der 35-jährigen Künstlerin.


KUNSTZEITUNG: Wenn man durch die Ausstellung schlendert und einen Blick auf die Fotos Ihrer Performances riskiert, hat man Angst, als Spanner ertappt zu werden.


Vanessa Beecroft: Es sind doch nur Fotos von etwas Vergangenem. Die Ausstellung ist redundant und berührt mich nicht besonders. Interessant ist dagegen das Live-Event. Dann sehen Sie eine nackte Frau vor sich. Nach einer Weile ist sie erschöpft und müde. Sie verliert ihren Glamour, sie ist nicht mehr schön. Ich mag es, das Publikum in die Situation zu versetzen, sich das anschauen zu müssen.


KUNSTZEITUNG: Manche halten das für eine Peepshow unter dem Deckmantel der Kunst.


Vanessa Beecroft: Jede falsche Interpretation und jedes Missverständnis ist gut für mich. Es reflektiert das Problem. Wenn ich mir Mädchen auf der Straße anschaue, denke ich manchmal: Sie sind so schön wie Gemälde. Und wenn ich sie dann in eine Galerie setze, sollen es plötzlich Prostituierte sein? Aber ich werde die Mädchen wieder zeigen: nackt, mit Stöckelschuhen und mit Lippenstift. Ich werde es überdosieren bis ein Moment der Gewöhnung eintritt.


KUNSTZEITUNG: Nun sagen Sie aber selbst, dass Sie Frauen als Material benutzen.


Vanessa Beecroft: Ja, als Repräsentanten für mich selbst.


KUNSTZEITUNG: Würden Sie sich auch mal von korpulenten Frauen repräsentieren lassen?


Vanessa Beecroft: Nein. Dann würde meine Arbeit dicke Frauen behandeln. Aber sie beschäftigt sich nun einmal mit der Schönheit und der traditionellen Kunst des Aktes. Es geht auch um Fitness und soziale Fragen. Ich arbeite normalerweise mit Frauen, bei denen sich alles um ihr Aussehen und eine mit dem Essen verbundene Melancholie dreht.


KUNSTZEITUNG: Weshalb man Ihr Werk schon einmal als Hilferuf einer Bulimiekranken interpretierte...


Vanessa Beecroft: Das war es vielleicht, bevor ich meine erste Performance hatte. Ich hatte ein Tagebuch, in dem ich alles notierte, was ich verzehrte. Zusätzlich zeichnete ich Körper mit dürren Gliedmaßen. Die Zeichnungen entstanden, weil ich krank war. Ich zeichnete, und die Krankheit war weg. Nachdem ich das Tagebuch und die Zeichnungen erstmals ausgestellt hatte, ermunterte mich mein Lehrer, das Thema weiterzuverfolgen. Nun zeige ich auch nackte Frauen, denn ich war immer sehr interessiert an der Anatomie von Frauen – besonders von unterdrückten und dürren Frauen.


KUNSTZEITUNG: Nackte Frauen auf Stöckelschuhen – ein Schelm, wer da an Helmut Newton denkt?


Vanessa Beecroft: Ich mag Helmut Newton sehr und bin sehr traurig, dass er gestorben ist. Ich war neugierig, wie sich sein Werk weiterentwickelt. Seit meiner Performance VB 43 in der Londoner Gagosian Gallery beziehe ich mich auf manche seiner Fotografien. Vorher kannte ich sie nicht genug. Newton ist tiefgreifend und interessant. Er fotografiert in einer sehr routinierten und dramatischen Weise. Aber seine Vision ist eine männliche. Mein Standpunkt ist der einer Frau; die Mädchen repräsentieren mich. Er benutzt Frauen, und er hat eine ganz spezifische Phantasie. Ich will hingegen Gefühle reproduzieren und eine Reaktion des Publikums provozieren. Er hat mehr die Idee von einer aggressiven Frau, auf meiner Seite ist mehr Zorn im Spiel.

 

KUNSTZEITUNG: Humor spielt also bei Ihren Performances keine Rolle?


Vanesse Beecroft: Es ist eine sehr ernste Situation. Die Modelle müssen sich an Regeln halten. Niemand lacht. Dennoch spielt Humor manchmal eine unterschwellige Rolle. Zum Beispiel bei der Performance VB 51 im Schloss Vinsebeck in Steinheim. Die Modelle gingen umher, als ob sie zur Aristrokatie gehören würden, sahen aber mit ihren Haarnetzen und Nachthemden so aus, als ob sie einer Irrenanstalt entlaufen wären. Sie haben sich sehr geschämt, da zu sein. Das ist Humor, aber er ist nicht lustig.


KUNSTZEITUNG: Eine Retrospektive blickt zurück. Machen Sie mit der Bielefelder Ausstellung im Alter von 35 Jahren einen Schnitt?


Vanessa Beecroft: Ich könnte sicherlich nach zehn Jahren Arbeit und über 50 Performances einen Schnitt machen. Was passiert, weiß ich allerdings nie vorher. Ich arbeite nur, wenn mich jemand einlädt. Erst dann fange ich an, zu überlegen. Vielleicht mache ich weiterhin Performances, dann aber nicht mehr so häufig. Ich will auch mehr Kontrolle über die Filme haben. Bisher überließ ich die Kamera anderen Leuten. Da gibt es wohl eine Änderung. Prinzipiell wäre es aber auch in Ordnung, wenn jetzt alles vorüber wäre. Aber ich glaube, dass es noch nicht so weit ist.


(© KUNSTJAHR 2004 / Tankred Stachelhaus).


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Geweckte Energie

Im Gespräch: Günther Uecker

Ein Foto hat Günther Uecker geschickt bekommen. Ob der abgebildete Baumstumpf mit eingekloppten Nägeln, der ein Ladenschaufenster dekoriert, ein Original sei, will der Absender wissen. Milde schreibt Uecker mit dem Filzstift an den Rand: „Freie Interpretation!“


Uecker hat das so gekennzeichnete Foto auf einem Regalbrett seiner Bibliothek mit Hunderten von Katalogen liegen lassen, durch das wir streunen dürfen. Der Maler selbst ist malen. Der Fotograf, der zum Interview mitgekommen ist, hat Uecker gebeten, ihn bei der Arbeit knipsen zu dürfen. Das Shooting geht recht schnell, aber Uecker will die frisch angerührte Farbe nicht verderben lassen. Und so lässt er sich drei Stunden nicht mehr blicken.

Da sitze ich nun mit der Vertreterin des Geldinstituts, die das Treffen eingestielt hat, in der Altelierwohnung herum und blicke auf den Medienhafen. "Sie wollten mich doch nicht stören", ruft Uecker unwirsch, als wir doch mal gucken wollen, ob der Herr Professor noch lebt. "Halten Sie sich bitte daran."

Aber dann sitzt er vor uns, entspannt, gut gelaunt. Das Interview fängt etwas verkopft an. Aber ich habe selten in so kurzer Zeit soviel über Kunst und Künstler erfahren und eingefahrene Denkmuster korrigieren dürfen wie damals in Düsseldorf im Sommer 2004. Dass die Publikation des Geldinstitutes, das das Interview beauftragt hatte, nie erschienen ist, fand ich immer schade. Aus Anlass von Ueckers 80. Geburtstag am 13. März 2010 habe ich das Gespräch wieder hervorgezogen.


Tankred Stachelhaus: Ich hoffe, dass sich das zu einer lockeren Plauderei entwickelt...

Günther Uecker: Naja, nur nicht so akademisch...

Nett, dass Sie mit mir sprechen. Aber: Sollte Kunst nicht für sich selber stehen? Wozu muss ein Künstler eigentlich noch etwas dazu sagen?

Das ist Ihnen eine Frage wert?!


Na klar. Die Künstler, die an den Pyramiden der Pharaonen gearbeitet haben, waren anonym. Von denen haben wir auch keine Statements zu ihrem Werk.

Das ist wahr! Echnaton, du bist und sei! (lacht). Wir sind in einem anderen Jahrhundert und schon wieder in das nächste geraten. Mein Hauptwerk ist nun einmal im 20. Jahrhundert entstanden. Bis zu dem Zeitpunkt, wo die ersten Kunstgeschichtler auftauchten, und die gibt es noch nicht lange – wenn ich mich nicht irre erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts – gab es eben nicht die Form von Kunstwahrnehmung wie heute. So gibt es eben Rückbezüge, so gibt es die These: die Kunst kommt aus der Kunst, das gilt für die Kunstware in hohem Maße.

Ich sage aber: Die Quellen der Kunst liegen außerhalb der Kunst. Und da sind natürlich auch meine Erfahrungen begründet, die aus Reisen herrühren, von kulturellen Annäherungen und Naturversenkungen, von Konflikten und Gewaltpotenzial im Menschen – das den Menschen gefährdet. Also die Gefährdung des Menschen durch den Menschen ist für mich ein ganz großes Thema. Und die Befriedung dieser Energien. Aber ich nutze sie auch – in meinem Werk erkennbar – als vitale Quellen für bildnerisches Handeln. Und dieses bildnerische Handeln ist bei mir auch eine Notwendigkeit – zurückzuführen in meiner manischen Prägung, dem Gestalt zu geben, also mir auch den sichtbaren Zusammenhang zu ermöglichen zwischen den Dunklem, das in mir atavistisch vorhanden ist und als unbewusste Erinnerung auch als Rückbindung wahrgenommen wird im mystischen Sinne.

Ich beschäftige mich viel mit religiösen Themen, Religion heißt in dem Fall auch Rückbindung. Und so sind eigentlich auch schon die Quellen definiert. Und diese manische Bestimmung, die dann in mir vorliegt als eine Art geprägter, dann auch zum Glück handlungsfähiger Mensch, führt dann auch dazu, dass in Obsessionen da etwas zum Ausdruck kommt, das wir heute als Bild ansehen, als Feld oder Ort des künstlerischen Handelns. Und das auch wahrgenommen wird in dem Zusammenhang das da ein Individuum eine Ausdrucksweise versucht, in der Akzeptanz seiner Komplexität seiner, Vielfalt, der Inspirationen, und das in eine Gestalt zu überführen, die eben wahrnehmbar wird in der Rezeption der Werke, dass da etwas humanes erkennbar wird, das vergleichbar ist – was früher vielleicht gleichgültig war in der Hervorbringung, also einem Gestalt-Kodex und –Kanon unterworfen, ist in diesem Fall individuell entwickelt, wird aber in der Rezeption kollektiv wahrgenommen.

Also der Betrachter entdeckt in den Werken – wie ich behaupte – doch auch eigene Verwandtschaften – seelisch oder auch empirisch aus seiner Handlungsstruktur her, woher er kommt – und im Vergleich ist dann doch auch eine menschliche Beziehung über das Individuum hinaus möglich. Und möglich ist auch innerhalb des authentischen individuellen Wahrnehmens was da heißt es ist originell, originär und eben von dieser unvergleichlichen Wahrhaftigkeit und Ausdruck seiner selbst. Das ist glaube ich der Grund für die heutige Wahrnehmung von den Dingen die Einzelne hervorbringen. Die auch so etwas wie psychoanalytische, autoanalytische Vorgänge sind, die dann aber auch erklärt und kenntnisreich vermittelbar werden.


Welche Vorgehensweise empfehlen Sie denn dann, sich Kunst überhaupt zu nähern? Muss ich viel über die Person des Künstlers als Einstieg wissen?

Arbeit! Der Künstler arbeitet, oft sind die Werke die Arbeitsstelle, und die Arbeitsstelle wird artikuliert, sie bekommt Form und Gestalt, sie wird wahrnehmbar als Ausdruck menschlichen Handelns...


Sie sprechen jetzt darüber, wie das Werk zustande kommt...

Ja. Wie das Werk zustande kommt und wie es vor die Augen geführt wird. Das ist ja der Prozess. Erst mal für den Künstler: Die Wahrnehmung, dass etwas Unbekanntes für ihn bildhaft wird, aus dem Seherischen auch hervorgebracht, gar nicht so sehr aus dem Gesehenen... (Uecker deutet auf etwa zwei Dutzend auf dem Boden ausgebreiteten Bildern hin)... Hier sehen wir ja viele dieser Aquarelle, die ja Studien sind, wo ich das Wahrgenommene und ... (Uecker zeigt in Richtung einer Reihe von Bildern, die an der Wand lehnen) ... da war ich jetzt in Australien, da sind so heilige Orte, wo eigentliche diese Energien von Aborigines und der Urgestalt der Erde auf mich wirkten. Und das habe ich dann notiert. Da bin ich wie ein Seismograph, der mit Hilfe seiner Sinne, auch im Sinne der Photosynthese in einen Farbrausch gerät – das notiert und hört wie Musik. 

Das sind also auch große Anstrengungen sich zu versenken. Sich der Natur so weit anzunähern, das es die Grenzen der bisherigen Wahrnehmung überschreitet, das ist eigentlich die Herausforderung für jeden Künstler, dass da auch Entdeckungen gemacht sind, sowohl für ihn selbst als auch für andere im Werk auch und dass das eben auch Arbeit bedeutet. Genauso wie man Musik hört, begreift man ja auch sich der Musik anzunähern, also da ist es ja schon ein artifizieller Wahrnehmungsbereich. Da bedeutet es Arbeit, Musik zu hören. Das ganze Leben, es erschöpft sich nie.


Ein Bild zu betrachten bedeutet also Arbeit? 

Ja. Das ist die Voraussetzung für den, der es erfahren will. Und hat das Bild auch diesen Reichtum, auf eine so lange Zeit inspirierend zu wirken, das Icon, das Bild, wie eine Ikone, icon spielt eine ganz große Rolle bis zum Anbetungswürdigen und das wissen wir aus dem Orthodoxen, dass hier unalphabetisch die Seele berührt, lebensbewahrende Energien anrührt und freisetzt. Also aus dem Icon, aus der Ikone, im Sinne des liturgischen Handelns auch. Das ist säkularisiert, aber immer noch spürbar in den Bildwerken, wenn sie von bedeutender Qualität sind. Damit auch erfahrbar durch wiederholte Annäherung.

Die Wiederholung spielt da eine ganz große Rolle, was Sie auch in meinen Werken sehen, als Themenwiederholung und Werkgruppen. Wenn die Werke gut sind, wirken Sie auch auf den Einfältigen. Es ist nicht nötig, dass ein intellektueller Prozess vorausgehen muss – diese Bilder zu betrachten. Das gilt nur für die „Kunst aus der Kunst“ und für diese Kunstware, mit der wir uns umgeben.


Sie sprachen es bereits an: Eines Ihrer zentralen Themen lautet, dass der Mensch dazu fähig ist, sich selbst zu zerstören. Wie kann Kunst angesichts von Krisen und Gewalt noch etwas über die Welt aussagen und insbesondere aktiv werden und zu ihrer Heilung beitragen?

Sicher im bewahrenden Sinne. Aber auch im Jubel. Es gibt ja auch im Barock Jubelbilder und Himmel bemalte Decken. Da wird die Schöpfung bejubelt. Halleluja! Dies ist auch eine Form des Ausdrucks, die Genesis zu bejubeln. Und dann gibt es aber auch das Wunder. Dass man sich bei einem ungesehenen Werk wundert. Das ist einfach für ein für mich schätzenswertes Werk von Bedeutung, dass es eben jeder erfahren kann. Dass da eben nicht eine intellektuelle Vorausaussetzung nötig ist im Sinne des Wissens, wo die Quellen sich wohl befinden und zudem geführt haben, wie das Werk nun vollendet ist und mir vor Augen geführt wird. Dieses unmittelbare Erleben einer ins Bild gebrachte Unbekannte zu erkennen, dass ist für mich das größte, das höchste, was geschehen kann. 


Ist das ein Punkt des Innehaltens?

Es ist ein Verweilen, lange verweilen, also langweilig (lacht).


Auf der Art de Cologne im Oktober 2001 haben sie eine Installation geschaffen, wo Sie Koran- und Bibelzitate auf zwei Wänden gegenüberstellten. Dazwischen standen als Verbindung ramponierte und genagelte Holzstäbe. Das war Ihre Reaktion auf die Anschläge des 1. Septembers...

Das ganze letzte halbe Jahr habe ich mit der seelischen Last des Krieges daran gearbeitet. Es waren unmittelbare Ausdrucksweisen. Ich bin doch sehr meisterlicher geworden darin, diese Möglichkeiten der Wahrnehmung umzusetzen, ins Bild zusetzen, so auch zu bannen – magisch bannen – um das auch zu benennen und zu erkennen, was mich bedroht. Ich setze doch voraus, dass gerade solche Fähigkeiten aus den Gefühlsbestimmungen zu handeln, expressiv, dass man sagt: Material ist unmittelbarer bildnerischer Ausdruck und zeigt mein Gefühl. Und ich stelle mich damit, wie auf dem Marktplatz, wie wenn ich mich an einen Ort begebe, wo ich mich selbst an den Pranger in aller Öffentlichkeit stelle mit Hilfe meiner künstlerischen Mittel. 

Es handelt sich dabei nicht um Kunst. Mit Hilfe meines künstlerischen Ausdrucks prangere ich etwas an und stelle mich, mach mich bloß, um diesen Dialog herbeizuführen. So denke ich eben Kunst kann vermitteln. Kunst kann mit ihren Mitteln zu Dialogen führen. Wie Tafelmalerei, wie getafelt, wie Abendmahl, wie gemeinsam Essen, am Tisch gemeinsam sprechen, Tafelei – daher kommt ja auch der Begriff Tafelmalerei. Das ist für mich immer noch haltbar als mögliche, optimistische Wirklichkeit, dass Kunst Bedeutung haben kann, in dieser Form, wie ich das jetzt beschrieben habe.


Das ist ja eine Sisyphusarbeit. Sie haben ja immer wieder betont: Scheitern ist meine Kunst. Woher nehmen Sie immer wieder die Kraft neu anzufangen?

Ja, das ist dann doch nicht akademisch oder vom Bewusstsein bestimmt. Das ist eine geweckte Energie, die nicht zurückgedrängt wurde – auch wenn ich als Kind immer viele Widerstände erfuhr. Das ist eine entwickelte Offenheit, die auf einem sehr vitalen Grund existiert. Diese bäuerliche Vitalität, diese Ungebildetheit, wo die Eltern auch keine Bücher oder Bilder hatten, das ist ein enormes Potenzial, was in mir ist. Und die schwere Arbeit, die ich auf dem Land habe machen können, um mich körperlich auszubilden.


Vielleicht ist es ja schön, nichts zu wissen und eine Tabula Rasa zu sein.

Jaja, aber das sollte man nicht herbeiführen. Es gibt ja beim Menschen Versuche der Entleerung, also Gedanken auszulöschen, also das kann man praktizieren, das ist mir wohlvertraut. Aber hier liegt ja etwas vor: Hier ist ja ein Autodidakt, ein Versucher, ein Finder, der etwas hervorbringt – nicht vom Himmel gefallen, aber aus einer Lebensdramatik, hauptsächlich aus dem Unverstand. Alles was er tat, gründete ja nicht auf der Verstehbarkeit, sondern immer in Kontroversen, in denen er sich befand. Und diese Kontroversen mussten sich ja erklären und behaupten, so war es denn auch eine starke Erziehung, das Unsagbare bildnerisch hervorzubringen. Wenn es schon im Stammeln nicht sagbar ist – wie ich es ja versuche, der Sprache nicht so mächtig (lacht). Ja früher! Ich sprach ja eigentlich erst mit 32 Jahren! Früher, da sagte man fast nichts auf dem Land. Da sagte man : Kick mei, seste dat auch, was ich sei?! Und mehr nicht. (lacht). Und heute: Das ist ja Künstlervernichtung, wenn ich anfange zu sprechen. Das ist mir wohl bewusst. Und ich versuche mich zu retten, indem ich einfach die auch sagbaren Buchstaben und Wortzusammenhänge ins Bild hineinziehe, das ist schon der Fall. Das wird daran deutlich, wo ich eben diesen Koran-Bibel-Dialog gemacht habe. Wenn ich mich schon der Sprache zuwende, dann doch immer im Versuch, da kausal auf ursprüngliche Bedeutungen zu verweisen und die Semantik zu nutzen, dass immer wieder zu vergegenwärtigen, dass das auch immer wieder mehrere Bedeutungen hatte in der geschichtlichen Entwicklung eines Begriffes oder Wortes. Das ist wichtig für mich – sonst brauche ich nicht zu sprechen (lacht).


Sie waren Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Ist es dem Nachwuchs überhaupt noch möglich, irgendetwas Neues zur Kunst beizutragen? Es gab und gibt doch schon alles!

Sie denken, die Kunst ist aus?! Wenn Sie aber wahrhaftig leben, dann merken Sie auch, dass es eines ganz individuellen Charakters ist, wie Sie sich einem anderen Menschen annähern, beispielsweise. Also da könne Sie schon das entdecken, was für andere neu sein wird. Wenn Sie ihre eigene Charakteristik – jedes Blatt im unterscheidet sich ja –, wenn Sie das nicht akzeptieren und das nicht ausbilden, dann bleiben Sie natürlich in der Konvention des Vergleichbaren. Aber wenn Sie das ausbilden, dann haben Sie für andere einen Innovationsprozess wahr gemacht. Für andere! Sie selber sind Sie selber!


Die Welt ändert sich ja auch. Neue Künstler müssen neue Zustände formulieren.

Das auch. Das haben wir lange diskutiert in den sechziger Jahren. Aber ist auch schwer, den Veränderungen zu folgen, wenn man Welt verändern will. Das liegt immer bei einem selbst. Man ist sozusagen die Retorte eines biophysischen Labors und laboriert mit sich selber, wie es ein Wissenschaftler und Forscher das ja auch tut. Oder er sucht die Klamotten und versucht den Schotter der Geschichte zu deuten – das machen Archäologen ja auch (lacht).

In diesem Urprozess geht's um das Bekenntnis zu sich selbst. Es geht um die Akzeptanz! Absolute Akzeptanz. Mit allen negativen Eigenschaften. Und auch den Hervorbringungen, das was da scheitert, das als eine Art menschlichen Ausdruck und seiner Besonderheit zu akzeptieren.


Sie benutzen ja auch sehr stark Ihren Körper als Werkzeug. Manchmal ist das sehr unmittelbar, mit Finger- und Körpermaler.

Ja, ich verstärke natürlich meine mechanischen und meine Bewegungsmöglichkeiten des Körpers.


Das sind ja unterschiedliche Medien und Körpereinsätze, die da zum Tragen kommen. Es ist auch etwas zum Anfühlen, zum Tasten...

Wenn Sie Toilettenpapier benutzen, haben Sie schon einen Abdruck hinterlassen. Ein Kuss ist auch eine Berührung, die als Erinnerung bleibt. Es ist ja nicht nur die Stelle, die berührt wurde, sondern es ist ja auch eine seelische Berührung da. So kann ich sagen: Das eine hat vielleicht weniger sinnlichen Gehalt als das andere. Es gibt eben menschliche Handlungen, die eben zu einem Expressiven, also einer Ausdrucksform führen. Dieser Ausdruck ist dann das was sich als Handlungsprozess sich niederschlägt. Wie Randale. Wenn ich alles randaliere, verwerfe und das akzeptiere, wie es liegt, dann habe ich ein Werk vollbracht. Ob das eine hohe Qualität hat, ist ja gleichgültig. Aber ich kann daraus ablesen, in welchem psychologischen Zustand ich mich befinde. Und so kann ich anfangen. Erst zu randalieren, um meine eigene Sprache zu finden, um darin zu erkennen: ja, so handele ich. Da fliegt der Stuhl immer an den selben Platz und (lacht) – Ja, was soll das sein?! Gerade durch Wiederholung erkennt man sich selbst. Deshalb betet man ja auch.

Und auch diese Gottesannäherungen sind ja nicht anders. Die sind ja auch obsessiv und inbrünstig in vielen Fällen. Auch an der Klagemauer oder auf Artos die orthodoxen Mönche, die so oft man Tag beten und mit solch einer Inbrunst, die entäußern sich ja vollständig, um Gottesannäherung zu versuchen. Das sind ja alles Versucher. Wenn das aufrichtig geschieht und mit dem Restrisiko des Verlustes einer Selbstbetrachtung. Diese Erkenntnis, die man über sich hat, muss man über den Haufen kippen, das ist dann auch wieder ein Scheiterhaufen. Man wird aufgefangen, merkwürdigerweise. Dass dort, wo man sich total ergibt, dass da Energien und Kräfte und bewahrende Faktoren wahrnehmbar werden. Erst dann, wo man sagt: Das ist das Mysterium, was ist das, ist das göttlich? Erst dann beginnt eigentlich erst die Kunst.


Man sagt Ihnen einen gewissen Unwillen nach, wenn das Gespräch auf den Nagel zugeht...

Ja, klar, da sind wir jetzt dran, nach der leichten Vorrede (lacht).


Ist der Nagel für Sie zum Fluch geworden?

Unbehaglich ist es nur, weil ich immer danach gefragt werde, nach dem Material. Rembrandt hat immer die harten Borstenpinsel genommen, damit die Struktur sichtbar wird. Das macht sehr viel Lichtarbeit aus in der pastosen Farbe. Und wenn er da einen weichen Haarpinsel genommen hätte, wäre das nicht so lebensausdruckkräftig. Gut, man kann eben auch über das Material sprechen, und das tue ich ja jetzt auch. Mit dem was ich nun ja in der DDR gezeichnet habe und später hier auch bei Otto Pankok in der Akademie, rührte ja auch daher, dass man sagte: Der Mensch ist der Mittelpunkt des Seins und damit auch der Kunst. Somit war ich auch verpflichtet, dieser Ideologie im ethischen Zusammenhang, im realistischen, sozialistischen Denken wahrhaftig und wahrheitsgetreu zu folgen. Und dann merkte ich doch, wenn ich da mit spitzen Bleistift da in der Vagina oder in der Pupille da herumstocherte, wenn ich ein Aktmodell zeichnete: da kriege ich Pickel. Weil ich ja auch keine Ausbildung hatte von früher, dass man so etwas schon einmal gemacht hatte, ich hatte ja auch wenig, was da so vorlag.

Also da habe ich immer gedacht, was ist da die Realität? Ich habe das aus dieser naiven Haltung heraus dann so begriffen, dass meine Faust und der Bleistift und das Handeln die Realität ist, dass meine Pickel ich dann kriege. Und das unheimliche, dass mir so schauert. Ich musste auch beim Schlachten die Beine beim Schwein halten an so einem Seil, ich musste immer dabei sein. So war es mir auch nicht unvertraut, ein Aktmodell zu schlachten (lacht). Aus meiner Sicht! Und das war die Wahrheit. Und das machte mir doch diesen Umstand so vertraut, dass ich dann auch wenn ich den Bleistift einschlug, dann ist es eigentlich von der Handlung her künstlerischer Ausdruck. Ich bin der Mensch und ich handele. Und ich opfere, ich schlachte die dargestellte Form.

Und wenn ich dann noch sage: die Poesie wird mit dem Hammer gemacht, dann ist das natürlich aus der russischen Revolution, für mich damals, aus dem Osten kommend, eine ganz große Herausforderung. So habe ich dann doch eben experimentiert mit diesen einschlagenden Dingen. Psychologisch betrachtet, habe ich auch immer damit zutun, was andere als unartig bezeichne, also als Unkunst: Mit Fingern auf die Leute zeigen, in der Nase zu bohren – also diese Impertinenz. Und diese konnte ich aber in den Bildern immer mehr kultivieren. Und so hatte ich eigentlich, das was ich tat, also die bildnerische Handlungsstätte, bildnerische Handlungen näher an die Augen geführt dadurch. Das hat natürlich Wirkung gehabt. Das ist die ganze Grundlage meines bisjetzigen Tuns. 

Es kommt immer vor als wie beim Rollmops. Da muss man das Holz immer so lange drin lassen, bis man ihn an den Mund führt. Aber ich möchte schon ganz gern, dass die Leute dieses Hölzchen da im Rollmops mitessen, als wenn‘s im Hals quersteht. Das ist dann immer so meine Freude. Deshalb scheitere ich ja auch, weil man das mit dem Holz nicht macht. Also mit dem Nagel: Irgendwo ist da etwas quer, ein Splitter oder ein Messer kommt heraus. Damit ist das psychologisch erklärt.


Sie haben den Nagel aber auch weiterentwickelt.

Es ist doch nur ein Mittel! Als wenn man sagt: der Pinselstiel. Da können Sie sich auch Haare an den Finger binden und malen. Das sind alles solche Spekulationen, das Material zu thematisieren, also ich thematisiere das Material nicht. Es ist nur Material. Und es kommt wie ein Querholz vor. Es spricht beim Rollmops doch auch kein Mensch über das Hölzchen.


Ist beispielsweise ein riesiger Nagel, den Sie in einer Installation durch eine Düsseldorfer Kaufhausfassade stießen, keine Thematisierung des Nagels an sich?

Da dringt natürlich ein zur Kunst erhobener Gegenstand in eine triviale Konsumwelt ein. Ich habe ja auch in den Schaufenstern genau wie Ware meine Arbeiten hingestellt – die wirken da natürlich wie verrückt. Da ist nur ein Gegenstand in die Kunst erhoben. Man kauft ja auch Kunstfarben und Kunsthonig. Wieviel Kunst ist in Kunsthonig? Das ist doch mal eine Diskussion wert (lacht). So ist der Nagel auch zur Kunst erhoben.


Der Nagel dringt ja auch in den Raum. 

Ja, es ist etwas Impertinentes. Etwas Aufdringliches, Eindringliches. Es ist auch etwas Penetrantes: penetrieren, penishaftes.


Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken: Vom einfachen Bauerssohn zum anerkannten Künstler und Mitglied des Ordens pour le merit – ist das nicht phantastisch oder gar grotesk?

Grotesk ist das nicht, es macht heiter. Da kann man nicht mehr sagen. Und was mir da widerfährt, besonders beim Pour le merit. Ich komme mit Menschen zusammen, die von solcher außergewöhnlicher Besonderheit und lebendiger Intelligenz sind, von Neugierde gepackt, immer der bewegte Geist. Da bin ich gerne mit diesen Menschen zusammen. Das ist unglaublich, mit denen eine Gemeinschaft zu bilden. Manchmal wird man ja für sein Lebenswerk geehrt. Beim Pur le merit wird der Anspruch hingegen immer wieder gefordert. 


Damit können Sie sicher sein, dass die Auszeihnung keine Ehrung für ZERO ist.

Da denkt doch kein Mensch dran. Das ist gar nicht mehr aktuell. Das ist Frühgeschichte.


Es scheint ohnehin, als ob Ihre Obsession erst nach ZERO zum Tragen kam.

Natürlich. Und auch währenddessen schon. Ich war ja nur Gast bei ZERO. Das habe ich ja auch immer wieder gesagt – und niemand will es glauben. Und dann wird gesagt, der Uecker hat ZERO verraten, weil er das so hingeschmissen hat 1966. Ich habe dann gesagt: Ich habe nicht genug denunziert und verraten. Das wurde dann doch sehr stilisiert, diese ganze idealistische Form, wie sie Otto Piene formulierte. Also da war ich schon vorher ein Denunziant, das haben die anderen gesagt schon. Und da war das schon begründet, dass ich meinen individuellen Weg gehe.


Aber hat ZERO nicht dazu beigetragen, dass Sie die Kräfte so kanalisieren konnten?

Natürlich. Das war ja ein außerakdademische Zusammenwirken. Wir näherten uns an mit Anzügen und Krawatten, sagten „Sie“ zueinander und machten Analysen über unsere Werkstattarbeiten und stellten sie uns gegenseitig vor und trieben das voran. Wir hatten sozusagen eine kleine Privatuniversität mit uns betrieben. Und wir haben Menschen, wo wir Artverwandtes erkannten, eingeladen zu großen Ausstellungen – bis zu 45 Künstler waren wir ja manchmal. Das war ein fruchtbares Bildungskollektiv. Das hat mich natürlich stabilisiert und dass hat mir Sprache gegeben in der Möglichkeit der Definition von Werken anderer Künstler und meiner eigenen. Und das mit einer ganz großen Disziplin aufrecht erhalten, das ging ja bis 1964 und 1966 haben wir es dann ganz aufgegeben. Jeder hatte ja auch mit sich selbst so viel zu tun und Ausstellungen zu machen, die ganz individuell waren. Dann war man ja auch schon in einer Welt mit einer ganz eigenen Herausforderung. Und man es ja auch. Das war ein freiwilliger Weg, sich zu individualisieren. Da ist niemand verlassen worden. Was vorher implusiv war wurde dann explosiv.

Aber das kann man heute nicht mehr wiederholen, das war eine historische Tatsache in einem bestimmten Zeitraum. Jetzt kann man es auch nur noch historisch bearbeiten. Und sagen: Eine Ausstellung mit Werken aus dieser Zeit. Aber nicht, was die Künstler heute machen.


Ich bedanke mich für das Gespräch.

Was? War das schon alles?!


© Tankred Stachelhaus.


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