Tankred Stachelhaus

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CRASHKURS: BILDNEREI FÜR ANFÄNGER
FUSSBALLKUNST: CHOREOGRAFIE DER BALLKÜNSTLER


Bildnerei für Anfänger

Der Trend zur Malerei ist ungebrochen. Allerorts wird Farbe auf den Malgrund aufgetragen. Dafür muss man nicht jahrelang Kunst studieren. Auf der Suche nach einem Crashkurs landete KUNSTZEITUNG-Autor Tankred Stachelhaus in Wuppertal. Dort besuchte der nach eigenen Angaben „künstlerisch völlig unbegabte Mensch“ für die Serie „Der Test“ den zweitägigen Workshop „Freie Malerei für Anfänger“ – einer von mehreren „Kreativkursen“ für Kinder und Erwachsene im Von der Heydt-Museum.


In der Schulzeit konnte ich meine Bilder noch schön reden. Meist reichte es, das Stichwort „Gesellschaftskritik“ fallen zu lassen. Dann drückte meine 68er-Lehrerin im „GK Kunst“ beide Augen zu - wohl auch, um die dürftigen Machwerke nicht länger sehen zu müssen. Ob ich im Von der Heydt-Museum mit ähnlichen Methoden durchkomme?

„Ich kann nur Ratschläge geben. Gestalten müsst ihr selbst“, schockt die Kursleiterin Sybille Spelsberg. Erfahrungen sollen wir elf Anfänger der freien Malerei sammeln. Und Materialen „im Tun“ erkunden. Der bunt beschmierte Kittel aus dem Museumsfundus spannt. Einschüchternd wirkt der vor mir liegende leere Papierbogen. Vielleicht sollte ich mich bei meiner Künstlerwerdung erst einmal dem Informel widmen und innere Seelenlandschaften aufs Papier pinseln? Das Kalkül: Wenn das Ergebnis erwartungsgemäß nach einem Entsorgungsproblem aussieht, werden Bild und innere Stimmung meisterlich zur Deckung kommen.

An den Wänden ermuntern mich Kinderzeichnungen. Auf einer steht: „Ich bin auf der Welt, um herauszufinden, warum“ und auf einer anderen: „…um bunt zu sehen.“ Da gibt Spelsberg den ersten Tipp: „Farbig ist nicht bunt.“ Aus einer Kiste greife ich eine Flasche Kobaltblau, spritze ein wenig von der Acrylfarbe in einen leeren Margarinebecher, verdünne sie mit Wasser, um sie dann weisungsgemäß aufs Papier zu schütten und mit dem Spachtel zu verteilen. Nach dem Trocknen erhöht die Kursleiterin die Schwierigkeitsstufe: Rechteckige, an der Tischkante gerissene Seidenpapiere sollen auf das Bild gekleistert werden. Ich probiere es mal symmetrisch, mal asymmetrisch, mal gerade, mal schief – doch immer erscheint mir die Komposition zu bemüht. Warum soll ich bildnerischer Grünschnabel mal eben so schaffen, was Vertreter der „Konkreten Kunst“ ihr Leben lang ergründeten?

Der Geruch von Bienenwachs zieht durch den Raum. Eingerieben ins Bild, dient das Naturprodukt als transparenter Untergrund für die nächste Malschicht. „Passt grüne Farbe auf das Blau?“, frage ich die Kursleiterin. „Nehmen Sie doch gelbe, da haben Sie doch in der Mischung mit dem Blau das Grün dabei“, antwortet Spelsberg. Hätte ich auch selbst drauf kommen können. Jetzt  kommt der Kurs in Schwung. „Bei der freien Malerei ist wichtig, dass man lenkt und beibehält, was dabei entsteht“, trichtert Spelsberg den Hobbykünstlern ein. Hin und her schiebe ich das dünnflüssige Maisgelb über das gewachste Papier. Erfasst von einem Kreativitätsschub, dirigiere ich mit dem Spachtel ein Farborchester und forme Landschaften. Ich schaffe Rhythmen und Strukturen, verteile und ritze, konzentriere und vertreibe, trage ab und schichte. Selbstzufrieden erkläre ich das Bild als abgeschlossen.

Gelb

„Aufstehen!“ ermahnt mich Spelsberg. „Im Stehen hat man den besseren Überblick.“ Klingt besser als: „Setzen, fünf.“ Die Kursleiterin meint, dass mein Bild noch an den Rändern zur Ruhe kommen muss. Das setzt unter Stress. Mittlerweile habe ich eine Beziehung zu meinem blaugelben Baby aufgebaut; und mit jeder weiteren Seidenpapier- und Farbschicht steigt die Verhunzungsgefahr. Über das Werk gebeugt überlege ich, mit welchen Ergänzungen ich noch die Kurve kriege. Da fällt der Blick auf blaue Tropfen im Bild. Streng blicke ich zu meinen Mitmalern am Tisch. Wer war das? Der Herr gegenüber, der Bild für Bild wortkarg Farbe, Papier und Wachs wie Akten übereinander schichtet? Oder die Dame zu meiner Linken, die sich von jeder Schicht zu Gefühlsausbrüchen verleiten lässt? Am Ende trockne ich mit Gewalt meine Arbeit. Die beiden voll aufgedrehten Föne in der rechten und linken Hand geben einen unerwarteten „Feinschliff“: Das Wachs schmilzt, die Farbkleckse platzen. Farbe wird vom heißen Luftstrahl übers Werk getrieben. Ob ich es gleich als Art brût im Museum nebenan ausstellen soll? Fehlt nur noch ein Name. Ich schwanke zwischen „o.T.“ und „Gesellschaftskritik“. (© KUNSTZEITUNG / Tankred Stachelhaus))


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Choreografie der Ballkünstler

Kinetografin Christine Eckerle notierte Spielzüge der WM 2006

EckerleEin kariertes Blatt Papier, darauf eine vertikale Linie, an die sich mit dem Bleistift gezeichnete Symbole schmiegen. „Wuuuuuuuuum“, sagt Christine Eckerle und fährt mit dem Finger über die Aufzeichnung. „Da fliegt er durch die Luft, da trifft er mit Wucht auf - erst mit dem Knie, dann mit dem Becken, dann mit der Seite, wieder mit dem Knie. Und jetzt liegt er am Boden und klatscht zweimal in die Hände.“ Die Dozentin für Kinetografie an der Folkwang-Hochschule lehnt sich zurück und klatscht ebenfalls zweimal in die Hände. Dabei runzelt sie ein wenig die Stirn, fast so, als würde ihr gerade einfallen, dass so eine Handlung in einer Choreografie nur wenig Sinn macht. Aber diesmal hat die 62-Jährige nicht die Bewegungen von Tänzern notiert, sondern von Ballkünstlern. „Er“, das ist dezu Fall gekommene französische Stürmer Thierry Henry. Sieben Spielzüge aus dem Endspiel der Fußball-Weltmeister- schaft 2006 hat Eckerle analysiert und aufgezeichnet. Der dabei entstandene Film wurde als Bestandteil einer Videoinstallation von Harun Farocki auf der Dokumenta 12 in Kassel gezeigt.


 „Deep play“ nannte der in Berlin lebende Tscheche sein Kicker-Kunstwerk auf der bedeutendsten Kunstausstellung der Welt. Es thematisierte, dass es unterschiedliche Blickwinkel auf ein und dasselbe Ereignis geben kann – und doch 1,5 Milliarden Menschen vor dem Fernseher die gleichen Bilder vom Spiel vorgesetzt bekamen. Harun Farocki ging es in seiner Arbeit um die Aufbrechung des Bildmonopols. Von zwölf Monitoren flimmerte in der Rotunde des Fridericianum das WM-Finale Frankreich gegen Italien – aus jeweils ganz unterschiedlichen Perspektiven.

Vorgespielt wurde das Ausgangsmaterial der Fernsehkameras neben digital bearbeiteten Bildern, die Laufwege und Blicke der Spieler sichtbar machten. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigten das Geschehen in den Katakomben des Berliner Olympiastadions. Präsentiert wurde zudem eine Auswertung des Spiels durch DFB-Trainer. Zu sehen gab es auch Finger, die auf Knöpfe von Geräten für die Zeitlupenwiederholungen drücken. Und mittendrin spielte der Künstler auch die Kinetografie von Christine Eckerle ein – als Bestandteil des Perspektivenpuzzles, als handschriftlichen Gegenpol zum digitalen Aufwand und als Garant für Objektivität.

Ein wenig belustigt erinnert sich Eckerle, wie der Künstler ganz konstatiert feststellte, dass „ich nicht wusste, wie die Spieler alle hießen.“ Drei Stunden habe dieser zusammen mit Technikern das Filmset in der Hochschule aufgebaut. Die Aufnahmen, wie die Dozentin die Bewegungen der Fußballspieler aufzeichnete, sind aber dann recht schnell von der Hand gegangen. Eckerle hatte die Szenen bereits vorher auf einem Video erhalten, untersucht und vorgeschrieben. Sie brauchte nur noch abschreiben. „Die Fußballer waren ulkigerweise gar nicht so schwierig“, lacht Eckerle. Die größte Mühe habe sie nur dabei gehabt, zu entscheiden, was weggelassen werden kann. „Dieses ganze Herumgelaufe zum Beispiel.“ Lediglich, wenn mehrere Spieler die Sicht auf den Dribbler versperrten, kam sie ins Grübeln. „Was macht der da in der Mitte?“

1962 kam Eckerle als Studentin an die Werdener Folkwang-Hochschule, sieben Jahre später wurde sie Lehrerin. Die Kinetografie lernte sie vornehmlich von Albrecht Knust, der die von Rudolf von Laban im Jahre 1928 erstmals vorgestellte „Tanzschrift“ maßgeblich weiter entwickelt hat. Mit der „Laban-Notation“, wie die Kinetografie in Erinnerung an ihren Erfinder auch genannt wird, lassen sich Bewegungen des Menschen analysieren und aufzeichnen. Jedes relevante Körperteil hat ein Zeichen, das mit einem eindeutigen Bewegungssymbol und einem der Position im Raum entsprechenden Abstand entlang einer Zeitachse platziert wird. „Ich lese und schreibe das wie Noten“, erklärt die Dozentin.

Sie auf eine Tanztippse zu reduzieren wäre jedoch falsch: Eckerle ist so etwas wie eine Archivarin, die dafür sorgt, dass neue Choreografien für die Nachwelt erhalten bleiben und alte wieder auf die Bühne gebracht werden können. Die Studenten lernen von ihr mindestens fünf Semester lang die genaue Analyse der Bewegung. Wo setzt sie an? Wie überträgt sich das Gewicht auf die Beine, den Oberkörper und die Arme? In welchem zeitlichen Ablauf? Das Wissen darüber helfe auch bei der Entwicklung eigener Choreografien. „Man muss sich ja im Klaren darüber sein, was man tut“, sagt Eckerle. „Viele Sachen sind heute ganz ohne Musik als Anhaltspunkt.“

Eckerle legt Wert auf das Wort „objektiv“. Mit der Laban-Notation könne der Choreograf eindeutig die Bewegungen festlegen. Das, was die Tänzer schließlich daraus machen, sei ihre ihnen durchaus zugestandene, subjektive Auslegung. Wollte man aber anhand des vorgetragenen Tanzes die Choreografie, so wie sie gedacht war, rekonstruieren wollen, würde die Interpretation der Tänzer alles überlagern. Man würde sich immer weiter weg vom Original bewegen. Streng tadelt sie einige ihrer ehemaligen, es zur Berühmtheit gebrachten Studentinnen, welche der Kinetografie nur wenig Beachtung schenken. Eckerle: „Am Ende hinterlassen die der Nachwelt nur einen Haufen Videos auf denen ja niemand erkennen kann, wie man die Stücke tanzt.“

Dass die Kinetografie viel Arbeit macht und Disziplin erfordert, will die Dozentin gar nicht bestreiten. Für die Auswertung einer 90 Minuten langen Choreografie mit 22 Tänzern kalkuliert sie einen Zeitaufwand von einem Jahr. Und so wird sie wohl vorerst kein ganzes Fußballspiel in Laban-Notation übertragen. Eckerle schiebt ihre ausgebreiteten Vorzeichnungen zusammen, auf denen in Schreibstift „Fußball“ steht, und verstaut die Unterlagen im Spind. „Könnte sich vielleicht noch mal jemand für interessieren.“ Der Unterricht ruft. Mit einer schweren schwarzen Aktentasche pendelt sie zwischen der alten Abtei und der neuen Fabrik. Die Videoinstallation „Deep Play“ von Harun Farocki haben über 650.000 Menschen gesehen. Christine Eckerle war nicht in Kassel. „Und mit Fußball habe ich es auch nicht so.“  (© Werdener Nachrichten / Tankred Stachelhaus)


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