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KRITIK
REPORTAGE
INTERVIEW
PORTRÄT
AUSGESTELLT
DOSSIERS
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DOSSIER:
Kneipen
EINE
WAND IST ELVIS GEWIDMET: MICHA'S
KÄNNCHEN
DURCHGESÄGTER
KÄFER: SCHLEIFMÜHLE
BIER BIS VIER -
MIT SEGEN VON OBEN: AMPÜTTE
SCHLAGERGOTT VOM
KOHLENPOTT: DREHSCHEIBE
PLATTENSTAR
VON DER PLATTE: UNTERWEGS
MIT GÜNNI SEMMLER
Eine Wand ist
Elvis
gewidmet
Micha's Kännchen zieht zur
Schederhofstraße
Der Laden kam einen meist von innen
größer vor, als
er von außen aussah. Doch wer in die, dem
äußeren
Anschein eilig hochgezogene Bretterbude einkehrte, dessen Blick war
sowieso schon reichlich benebelt. Micha’s Kännchen
an der
Hachestraße 93 war immer die Endstation für
diejenigen, die
einfach mit dem Feiern nicht aufhören konnten und wollten. Nun
ist
das Frühlokal im Zuge der Abrissarbeiten rund um das
Gelände
des Güterbahnhofs umgezogen. Das neue,
größere Domizil
liegt rund 300 Meter weiter an der Schederhofstraße 10, eine
ehemalige Lehrlingswerkstatt der Deutschen Bahn.
Geschäftsführer Michael „Micha“
Becker beruhigt:
„Es bleibt alles beim Alten.“
So soll’s sein. Wenn die Discos den
„Rausschmeißer“ spielen, Kneipiers
„Die letzte
Runde“ rufen und sich auf Parties der Biervorrat dem Ende
zuneigt, erwacht das ruhrgebietsweit bekannte Micha’s
Kännchen aus dem Dornröschenschlaf. Kaum woanders
versammelt
sich ein solch gemischtes Publikum, treffen so viele Charaktere und
Mentalitäten aufeinander – ein sozialer Mikrokosmos,
geeint
durch die Gunst der frühen Stunde.
Wer hier ab vier Uhr morgens, samstags, sonntags und
feiertags, zum „letzten Absacker“ hinein will, dem
wird
erst einmal zu Leibe gerückt: Jacke auf, Hände hoch,
alle
Taschen werden inspiziert. Micha, der schon als Zehnjähriger
erste
Kneipenluft inhalierte und seit nunmehr zwölf Jahre sein
Kännchen als Geschäftsführer leitet, ist
erfahren und
vorsichtig. Viele Gäste sind bereits bei der Ankunft, um es
mal
nett auszudrücken, etwas beschwippst –
„besoffen“, meint Micha mit einem angenehmen Sinn
für
die Realität, „regelrecht besoffen“. Da
bedarf es
schon eines enormen Fingerspitzengefühls und
Durchsetzungskraft,
um drinnen die meist ausgelassene Partystimmung aufrecht zu halten und
gleichzeitig nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Sechs Ordner, Micha
spricht lieber von
„Geschäftsführern“, sorgen
sich um die Gäste. Wer zum Beispiel einschläft,
fliegt raus:
„Zur eigenen Sicherheit.“
Da gibt es Staatsanwälte, die sich gegenseitig
mit
Schampus vollspritzen, Polizisten und Türsteher aus anderen
Discos, die den Abschluss ihrer Nachtschicht feiern, den rund
70-jährigen Stammgast „Vater Erwin“, der
jedem, der es
hören will oder nicht, andalusische Musik erklärt und
Spieler, die sich darauf einlassen, mit Ordnern um ein
Freigetränk
zu würfeln oder Nägel mit möglichst wenigen
Hieben in
einen Holzklotz zu kloppen. Wer verliert, und das ist angesichts der
durch den Alkohol eingeschränkten Geschicklichkeit eher die
Regel,
muss eine Runde zahlen. „Hier darf jeder er selbst
sein“,
sagt Micha, der solange die Zügel locker lässt, bis
Gäste andere Gäste belästigen. Hier
hört der
Spaß für ihn auf, besonders wenn Frauen wie Ware
behandelt
werden. Der 42-Jährige ist schließlich stolz darauf,
dass
viele Frauen, die morgens extra fürs Kännchen
aufgestanden
sind, ohne Begleitung hier antanzen.
Im „neuen“ Micha’s
Kännchen sind nun
100 Quadratmeter hinzugekommen, ein Kicker, ein Video-Beamer, eine
endlich mal betretbare sanitäre Anlage, ein abgetrennter Raum
mit
Tischen und Stühlen und draußen ein kleiner
Biergarten. Hier
kann für kleines Geld volkstümliche Nahrung wie
Jägerschnitzel verspeist werden, zubereitet von einem
Schiffskoch.
Fast die gesamte urige Inneneinrichtung nebst Markisen und Ventilator
wurde hinübergebracht, ein Sammelsurium aus geschenkten und
ersteigerten Nippes, ergänzt mit einem gemalten Bild des alten
Kännchens. Eine Wand ist Elvis Presley gewidmet, eine
kitschige
elektrische Gitarre mit eingebauter Uhr und Konterfei des
Sängers
ersteigerte Micha auf Hawaii.
In einem Raum, so der Plan, soll mal Techno gespielt
werden.
Doch dies ist für den Elvis-Fan Micha keine
Herzensangelegenheit.
Ohnehin ist der von DJ Dirk im Hauptraum aufgelegte Schlager zu so
früher, oder wie man es sieht, später Stunde der
kleinste
gemeinsame Nenner des Publikums und obendrein die Tradition –
eine Tradition, die es zu bewahren gilt. Auf zwanzig Jahre ist der
Pachtvertrag angelegt, mit einer Option auf fünf weitere
Jahre.
Ein langer Zeitraum, doch Micha weiß innerlich: Es muss immer
für Leute gesorgt werden, die einfach nicht aufhören
können, zu feiern. (Tankred Stachelhaus / NRZ 2000)
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Durchgesägter
Käfer
Allerletzte Runde in der "Schleifmühle"
Die Kastanie hielt dem Sturm nicht
stand.
Krachend fiel der Stamm einmal quer durch den Biergarten und zermalmte
unter sich Tische und Bänke. Offensichtlich gab
selbst der
Wald mit einem donnernden Schlussstrich die
„Schleifmühle“ im Walpurgistal auf. Heute
wird in dem
bekannten Biergarten und der wohl ältesten Szene-Kneipe der
Stadt
die allerletzte Runde ausgeschenkt.
Die „Schleifmühle“ an der
Eschenstrasse 14
prägte und durchlebte mehrere Generationen. Unvergesslich sind
für viele früheren Besucher die Auftritte des
inzwischen
verstorbenen Thomas „Schulli“ Koppelberg, der sich
im
Biergarten mit dem Ausrufen von Nummernschildern falsch parkender Autos
ein paar Mark nebenbei verdiente. Der Essener Schauspieler machte eine
Performance daraus, zuletzt mit Megafon. „Wir hatten mehr
Ärger durch seinen Lärm als mit den
Falschparkern“,
erinnert sich Wirt Norbert Bethscheider.
Bei „Nobbi“ war alles
möglich. Der stets
verschmitzt dreinblickende Schlaks ließ gerne Fünfe
gerade
sein, schaute mit selbstgedrehter Zigarette im Mundwinkel
schräg
am Rauch vorbei auf den 50-Mark-Deckel und sagte nach kurzer
Bedenkzeit: „Sagen wir 35 Mark.“ Wer Ideen
mitbrachte, den
ließ Bethscheider sich in der „Schleife“
austoben. Zu
Gast am Tisch und auf der kleinen Bühne waren Helge Schneider,
Stefan Stoppok, Green Day, die Missfits und viele
Nachwuchskünstler, die hier oftmals die erste Chance bekamen
und
die tags darauf zurückkehrten, um ihre Gage am Tresen oder im
Biergarten zu verflüssigen.
1983 übernahm Bethscheider mit zwei
später
ausgeschiedenen Partnern die heruntergekommene Waldschänke,
die
bis in die 60er Jahre mit Tanztee lockte und die zuletzt angeblich nur
noch von einem Kunden am Leben erhalten wurde, dem Wirt selbst. Mit
Bethschneider & Co, die bereits Kneipenerfahrungen im
„Regenbogen“, einem Treffpunkt für die
Hausbesetzer im
Segeroth sammelten, kam Leben, aber auch Lärm in das
Walpurgistal.
Rasch entwickelte sich die abseits gelegene
„Schleifmühle“ zu einem beliebten Treff
mit
links-alternativer Ausrichtung. „Die Leute radelten mit dem
Fahrrad aus allen Stadtteilen hierher“, weiß
Bethschneider.
Als Dekorationsgag verband ein durchgesägter
VW-Käfer an Wand und Außenfassade den Biergarten mit
der
Kneipe. Doch der musste Anfang der 90er Jahre, wie
„Nobbi“
scherzt, „zum Tüv“. Zeitgleich stellten
sich die
verregneten Sommer und überhaupt der Ärger ein. Ein
zugezogener Nachbar setzte der
„Schleifmühle“ derart
zu, dass Konzerte vorzeitig beendet werden und der Biergarten bereits
um 22 Uhr dicht machen musste – eine Zeit, in der sonst die
ersten Gäste eintrudelten. Parallel konnten sich zentraler
gelegene Szene-Kneipen und –Biergärten wie Nord,
Platz, de
Prins und Temple Bar etablieren. Nach fünf Jahren erhielt die
„Schleife“ eine Konzession, länger
aufmachen zu
dürfen. Doch da war bereits die Kundschaft weg.
„Fünf
Jahre“, lächelt Bethscheider versonnen,
„das ist eine
ganze Studenten-Generation.“
Die „Schleife“ versuchte erfolglos
mal mit
spanischer, mal mit orientalischer Dekoration alte und neue Kundschaft
wieder ins Walpurgistal zu locken. Kurzzeitig wurde der Laden noch
einmal seinen Ruf als „Szenetreff“ gerecht, als
Anhänger des Goa-Techno, eine Art postmodernem Hippietums,
eine
Zeitlang hier ihre nahezu endlosen geschlossenen Parties feiern durften
- sogar in den Katakomben des Kellers. In jüngerer Zeit war
die
„Schleifmühle“ die Wiege unter anderem
für DJ
Thomas Geier (Rote Liebe), DJ Dr. Ben (Unique Club), T.E.V.O., Scooby
Snack, Temple Earth und Chewbahka.
Dennoch schleppte sich die
„Schleifmühle“
laut Bethscheider „nur noch von Winter zu Winter“.
Zuletzt
öffnete die Gastronomie allein am Wochenende und
später
ausschließlich zu Parties. Ende des Monats muss der Wirt nun
seine Wohnung über der Kneipe räumen. Das Haus wird
zu einem
Mehrfamilienhaus umgebaut. Bethscheider will versuchen, eine
Veranstaltungsgastronomie aufzubauen. „Ich bin einer der
besten
Improvisatoren, die es in dieser Schiene gibt“,
erklärt der
43-jährige Gastronom. Mit seiner
„Schleifmühle“
gibt Bethscheider, der bereits im „Fritz“, der
„Unsichtbar“, der „Roten Liebe“
und andere
Läden mitmischte, seine letzte Bastion auf. Zur Abschlussparty
ab
20 Uhr lassen die Schleifmühlen-Allstars die Schänke
im Wald
nochmal hochleben. Eintritt: fünf Mark. (Tankred Stachelhaus /
NRZ
2000)
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Bier
bis vier - mit Segen von oben
Die "Ampütte" feiert ihren 100.
Müde schlendert der Gast an
die Theke. "Was zu trinken?" fragt der Kellner ruppig. "Mmm,
vielleicht…" - "Du brauchst ‚n Kaffee, Junge."
Willkommen in der Kneipe, wo die Augen die Bestellung aufgeben, wo
Prominente und Nicht-Prominente gemeinsam die Gläser heben, wo
durchgemacht wird bis zum Morgengrauen. Die Ampütte feiert
ihren Hundertsten.
Als Papst Johannes Paul II. während seiner
Essener Visite im Papamobil über die Rüttenscheider
Straße fuhr, soll er seinen Segen auch der Hausnummer 42
gegeben haben. An diese Geste kann sich Patric Ampütte, der
vor sechs Jahren die Kneipe von seinem Vater Karl-Heinz
übernommen hat, jedenfalls noch gut erinnern. Von diesen
höheren Weihen erzählt der 40-jährige Wirt
gerne, wenn es darum geht, die Beliebtheit der Ampütte zu
ergründen. Hier sieht’s aus wie in jeder
x-beliebigen Eckkneipe: Butzenfenster, rustikales Mobiliar, das volle
gut bürgerliche Programm, allerdings bis vier Uhr morgens.
Vielleicht sorgt also doch am Ende jener geheimnisvolle Charme, der in
der austarierten Mischung des Publikums und dem feinfühlgen
Geschick des Personals begründet ist, für den Erfolg
der Ampütte. Hier feiern Banker neben Fußballfans
einträchtig zusammen. Zum Stammpublikum gehören
Stefan Stoppok und Günni Semmler. Letzterer spielt seinen
berühmt-berüchtigten "Container-Song" hier zuweilen
auch auf dem Boden liegend. Um die Tische kümmert sich Kellner
Peter Link.
Der gelernte Koch beherrscht die Gratwanderung zwischen
ruppig und freundlich, und so darf sich auch das Publikum benehmen. Von
seinen früheren Jobs in der gehobenen Gastronomie hat der
Thai-Boxer jedenfalls genug von Fragen wie "Dürfte ich
vielleicht bitte noch ein Bier haben?" Wenn`s zum Gast passt, reicht
ihm die schlichte Aufforderung "Bier" - halt ehrlich und zielgerichtet.
Die hemdsärmelige Art verzauberte schon David Copperfield, der
einst plötzlich mit zwei Leibwächtern aus dem Nichts
erschien und nach einem durchgebratenen Steak verlangte. Link freute
sich über 30 Mark Trinkgeld und eine Autogrammkarte. Typisch
für die Ampütte: Am Tresen hielt der prominente
Zauberkünstler keinen Gast vom Pilsken ab: "David Copperfield?
Geh mich wech!" (Tankred Stachelhaus / NRZ 18. Mai 2001)
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Der
Schnulzengott vom Kohlenpott
René Pasal zapft und singt in der
"Drehscheibe"
"Ich mache alles selber",
sagt der Sänger und man möchte verbessern: Er ist
alles selber - Star und (sein) größter Fan zu-
gleich. Pures Schlagerblut zirkuliert in seinen Adern, kaum ein anderer
Essener Interpret bringt soviel Begeisterung für die
süße Melodie auf wie der "Schnulzengott aus dem
Kohlenpott" - ein vielbelächelter Titel, den die
Namenskreuzung aus René Carol und Petra Pascal stolz
trägt. Schließlich kostete es einiges an Arbeit,
Investitionen und Demütigungen, bis sich aus dem Kokon "Dieter
Wolter" der blonde Schmetterling "Rene Pascal" entpuppte.
Höchstselbst zapft der 48-Jährige hinter den Tresen
seiner urigen Kneipe "Drehscheibe" Hits und Getränke
für die vornehmlich weiblichen Fans mittleren Alters.
"Ein toller Mann, seine Augen - ach, die haben schon
etwas", schmachtete Hildegard Knebe einst vor laufenden Kameras. Mit
Margot Neumann stritt sie sich darum, wer denn von ihnen beiden der
größere Fan sei. "Was erzählst du denn
schon wieder?" fragt René Pascal hinter dem Zapfhahn und
verdreht die Augen.
Die Geister, die der gelernte Frisör als
Schlagerstar rief,
wird er als Kneipenwirt nicht los. Schmachtend sitzen seine Fans auf
den Barhockern an der Alfredstraße 23. René Pascal
erträgt’s mit Fassung und mit einem Blick aus den
blauen Augen, der entweder als müde oder träumerisch
durchgeht. "Ich bin ja eigentlich ganz normal."
Kräftig mitgesungen hat René Pascal
schon als Schlager-DJ, unter anderem im "Sterkrader Hof“. Das
Publikum und Freunde, so erzählt der Schnulzensänger,
habe ihn ermutigt, eigene Titel aufzunehmen. 1987 klopfte der sanfte
Ohrknopfträger mit seiner ersten selbstproduzierten Single
"Rot war dein Mund" beim WDR 4 an. "René, aus dir wird noch
was", versprachen ihm die Musikredakteure und mit der zweiten Single
wurde es wahr. "Jambalaya" (ursprünglich von Fats Domino)
verkaufte sich 30000 Mal. Zur 500-Jahr-Feier der Deutschen Bundespost
(ein Jahr vor Gründung der Telekom) produzierte Pascal 1988
den Song "Ich schenke dir ein rotes Telefon". Über diesen
Alarmdraht ließ er ein Jahr später jeden aus seiner
wachsenden Fanschar wissen: "Du bist ganz anders als ich." Doch erst
1991 erfolgte der große Durchbruch.
Hans Schulz, früher Produzent von Andy Borg,
Heino und Howard Carpendale, ließ sich auf den Kneipier ein,
ein weiterer bekannter Essener Produzent lieferte unter einem Pseudonym
den Text. Der Song "Lady Blue" erreichte den dritten Platz der
Hitparade und dass der blauäugige René Pascal eine
Zeit lang den Glauben an die Schlagerwelt verlor. Er überwarf
sich mit Hans Schulz und schrieb die Anzahlung für einen
Nachfolgehit in den Wind. Seitdem nimmt der Blumen- und
Kuscheltierfreund die "großen Gefühle" wieder selbst
in die Hand. "Darf ich mich vor- stellen, mein Name ist Pascal, sie
sind mir aufgefallen, in je- dem Fall", reimt sich der Schnulzengott
auf seiner neuesten Scheibe zusammen. "Ich habe Erkennungswert, das
muss man in der Schlagerszene haben", sagt René Pascal
überzeugt und stellt noch ein Bier hin. Stimmt so. (Tankred
Stachelhaus / NRZ 5. September 2000)
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Platttenstar
von der Platte
Unterwegs mit Günni Semmler
"Jaja, muss, mmm,
jau, hö..." Tief poltert die Stimme, knarzt, nuschelt und
rempelt orientierungslos durch die alkoholgeschädigte Kehle.
Doch aus dem Nichts ist er dann plötzlich wieder da, der rote
Faden: "Und irgendwann trat Stefan Stoppok in mein Leben."
Zerknautschtes Gesicht, schmächtige Figur, Segelohren, klobige
Brille, Zylinder, schwarzer Anzug, weißes Hemd, Krawatte, ein
um den Hals gehängter Schlüsselbund und -
selbstredend - sein Akkordeon: Wer durch die Kneipen im Essener
Süden zieht, kann sich Günter "Günni"
Semmler kaum entziehen. Zu den Stationen seiner nächtliche
Tresentour gehören die "Karawane", das Cafe Click, der Bahnhof
Süd und die Ampütte. Unaufgefordert stellt der Wirt
Günni ein Pils hin, und dieser greift, gleichfalls
unaufgefordert, in die Tasten.
"Wupp, wupp - wupp, wupp" begleitet seine linke Hand im
"Leon de Belge" die mit der rechten Hand gespielte Melodie von "La
Paloma". In seinen ersten Jahren als Schifferklavierspieler gaben die
Zuhörer "ne Mark, damit ich aufhöre". Noch immer sind
seine musikalischen Künste nicht unumstritten. Auf der ersten
Station des Abends werden die Tischgespräche demonstrativ
lauter. "Ich will nicht", lässt einer der rund 20
Gäste den Kneipenmusikanten abblitzen, als Günni
unvermittelt sein Akkordeon auf einem Barhocker ablegt und mit dem Hut
von Tisch zu Tisch zieht. Ein Blick in den Hut macht ihn unzufrieden
"Ruhig, ruhig. In der Ruhe liegt die Kraft. Immer locker bleiben", sagt
Semmler. "Wenn nicht hier und heute, dann ein anderes Mal."
Gleich gegenüber, im arabischen Restaurant
"Karawane", wirds wahr. Dicht gedrängt sitzen die
Gäste, viel Arbeit also für die Kellner. Ihnen
scheint Günni gerade noch gefehlt zu haben. Doch den
Akkordeonspieler regt die hektische Betriebsamkeit zu einem besonders
starken Pumpen der "Walther Teeny 48" unter dem goldenen Metallrelief
von Tutanchamun an. Diesmal nickt Semmler nach einen Blick in den Hut..
Im Bahnhof Süd und in der Ampütte läuft
Günni zur Hochform auf. "Der Container" öffnet sich,
jenes stadtbekannte Lied, mit dem Günni sich selbst und der
Lebensart im Ruhrgebiet ein Denkmal setzte.
Seine mehrmals überarbeitete, auf der
Schreibmaschine getippte Biografie fängt an mit den
schönen Worten "Hir is güni aber halo ich schreibe
jez mrin lebens lauf schreibe erst mal ob ich behaupt georen bin."
Heißt: Günni lebt im Hier und Jetzt, und wer sich
für seine Vergangenheit interessiert, muss diese vornehmlich
aus Wortfetzen rekonstruieren. Bei diesem Thema flüchtet er
jedenfalls in der Ampütte zum Spieleautomaten "Pinke Pinke".
Dafür lässt er sogar sein Leibgericht, Bratkartoffeln
mit Spiegeleiern, stehen. Eine Münze nach der anderen wirft
Semmler ins Daddelgerät, als gelte es, mit jedem Druck auf die
Risiko-Taste verlorenes Glück erneut herauszufordern. "Mein
Vater war ein Nazi-Arsch", grunzt Semmler, geboren in Rellinghausen.
Während des Krieges wurde Günni wegen epileptischer
Anfälle gleich wieder aus der Kinderlandverschickung verbannt.
Zu Hause traf eine Bombe das Elternhaus. Drei Tage lag das Kind unter
Schutt und Asche begraben. Nach dem Krieg verdingte er sich als
Gärtner und Straßenbauarbeiter.1952 heiratete
Günter Semmler, doch die Ehe scheiterte nach zehn Jahren. "Ich
hab sie dreimal mit nem anderen erwischt". Semmler durfte seine
inzwischen verstorbene Tochter Claudia nicht mehr sehen.
Unterhaltszahlungen überstiegen sein Einkommen, sein Weg
führte in die Obdachlosigkeit. "Platte machen", wie er sagt:
in Essen, Köln, Frankfurt und wohin ihn der Suff sonst noch
trieb. Mehrmals schlugen ihn Jugendliche zusammen, zuletzt
lebensgefährlich im Bochumer Stadtpark. Danach suchte Semmler
mit dem Akkordeon im Arm wieder den Anschluss an die Gesellschaft.
Die Diakonie hilft ihm dabei, verschaffte ihm eine
Wohnung, verwaltet sein Geld. Denn wenn er auch mit Stoppoks Hilfe
"Plattenstar" geworden ist, wie er sagt - zur Million hats nicht
gereicht für Günni, dessen Kneipenrunden langsam
kürzer ausfallen. Denn am Montag wird er 70. Ein
verrücktes Leben, das mit seinem CD-Titel bestens beschrieben
ist: "Wer weint, kriegt sein Geld zurück." (Tankred
Stachelhaus / NRZ 8. Juni 2001)
Nachtrag:
Günni
Semmler starb im September 2004 im Alter von 73 Jahren. Seit Juni
2007 erinnert am Essener Isenbergplatz eine zwei Meter hohe
figürliche Bronzeplastik des Bildhauers Thorsten
Stegmann an den
stadtbekannten Akkordeonspieler.
[Nach
oben]
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